Neue Formen des freiwilligen Engagements
Einleitung
Veränderungen gehören zu unserem Alltag. Es überrascht sicher nicht, dass das auch für die Freiwilligenarbeit, die sich so nahe am Menschen bewegt, gilt. Die Umstände ändern sich und selbstverständlich auch die Freiwilligen. Der Freiwilligen-Monitor 2020 hält fest: Die Bereitschaft für Freiwilligenarbeit ist sehr konstant, hingegen findet „eine Verlagerung, weg von traditionellen Formen des Engagements hin zu neuen Formen“ statt. Diese Entwicklung ist in der Praxis bereits unübersehbar. Für die Entwicklung der Freiwilligenarbeit in der Zukunft ist die Beachtung und Ausrichtung auf diese neuen Formen entscheidend. Denn es liegt in der Natur des Begriffs Freiwilligkeit, dass sie auf einem freien Entscheid beruht. Man kann sie machen oder auch nicht. Existenziell ist sie für die Freiwilligen in der Regel nicht. Und wenn das Angebot an Freiwilligenarbeit für potenzielle Freiwillige unattraktiv ist, dann lassen sie es eben meistens bleiben.
Die „neuen Freiwilligen“
Die Freiwilligenarbeit wird zunehmend von Personen geprägt, die man als neue Freiwillige bezeichnet. Cornelia Hürzeler, Projektleiterin beim Migros Kulturprozent, umschreibt sie in der Studie „Die Neuen Freiwilligen“ des Gottlieb Duttweiler Instituts, so:
„Die ‚neuen Freiwilligen‘ wollen zunehmend mitentscheiden, nicht nur über das ‚Was‘, sondern auch über das ‚Wie‘. Sie wollen sich selber organisieren, Eigenwirksamkeit erfahren und auf Augenhöhe als Partner mit anderen Menschen ihre Umwelt gestalten.“
Zusätzlich ist entscheidend, dass die meisten von ihnen sich nicht mehr längerfristig regelmässig binden wollen, sondern nach Abschluss eines Projektes wieder frei sein möchten, bis sie sich wieder in einem neuen Vorhaben engagieren. Organisationen, die mit Freiwilligen arbeiten und auf diese angewiesen sind, kennen diese Entwicklung. Wer sich auch in Zukunft genügend Freiwillige sichern möchte, tut gut daran, sich darauf einzustellen. Ohne Zweifel sind damit erhebliche Herausforderungen verbunden. Dort, wo Freiwilligenarbeit mit Nähe zu den Menschen und mit dem Aufbau von Beziehungen verbunden ist, wie das sehr oft der Fall ist, wird es wichtig sein, dass die Kontinuität der Leistung verstärkt an Bedeutung gewinnt und damit etwas den Rückgang der Kontinuität bei den Personen auffangen kann. Gerade im sehr wichtigen Bereich der Unterstützung der älteren Menschen ist das eine anspruchsvolle Aufgabe.
Was heisst das für die Zukunft?
Organisationen, die auf Freiwillige angewiesen sind, müssen sich an diesen Wandel anpassen. Die Organisation wird anspruchsvoller, wenn mehr Personen für eine bestimmte Aufgabe zum Einsatz kommen. Damit wird sicher verbunden sein, dass die Selbstorganisation der Freiwilligen größer werden muss, was grundsätzlich den Wünschen der neuen Freiwilligen entgegenkommt, und auch bereichernd wirken kann. Bei dieser Neuorientierung können zweifellos die digitalen Möglichkeiten wertvolle Dienste leisten. Sie machen einen unkomplizierteren Umgang zwischen der Freiwilligenorganisation und den Freiwilligen, und auch zwischen den Freiwilligen und den Unterstützten einfacher und unkomplizierter. Dabei ist jedoch zu beachten, dass in der Übergangszeit, die noch dauern wird, nicht alle Menschen die digitalen Möglichkeiten auch nutzen können. Wir werden noch viele Jahre sowohl mit den traditionellen wie den neuen Anforderungen, sowohl auf Seiten der Freiwilligen wie auf jener der Unterstützten, damit zu Rande kommen müssen. Für die Zukunft der Freiwilligenarbeit ist aber entscheidend, dass dieser Entwicklung die volle Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Zeitgutschriften
Die Bedeutung der Freiwilligenarbeit wird meist unterschätzt. Nicht nur im Zusammenhang mit ihrem Umfang und ihrer für das Funktionieren der Gesellschaft zentralen Aufgaben, sondern auch bezüglich des Engagements der einzelnen Menschen. Dazu kommt, dass oft ein Gefälle, oder mindestens das Gefühl eines solchen, zwischen den gebenden Freiwilligen und den nehmenden Unterstützten besteht. Das Prinzip der Zeitgutschrift besteht darin: Jemand gibt Unterstützung, erhält dafür Zeitgutschriften und jemand bekommt die Unterstützung. Die Idee der Zeitgutschriften ging davon aus, dass die Freiwilligen damit ihr Engagement „schwarz auf weiß“ bestätigt haben, und dass mit dem Umstand, dass die Unterstützten den Freiwilligen die Zeitgutschriften bestätigen können, beide Seiten etwas geben und einander damit auf Augenhöhe begegnen können. Zusätzlich stand zu Beginn auch die Idee einer geldfreien Altersvorsorge dahinter, ursprünglich war sogar die Rede von einer „vierten geldfreien Säule“. Dafür hätte allerdings eine sehr starke Verbreitung gebraucht. Dafür gibt es zurzeit keine Anzeichen. Das ändert aber nichts daran, dass sich Zeitgutschriften als nützlich für die Bestätigung der erbrachten Leistung und der Begegnung auf gleicher Ebene erwiesen haben.
Caring Communities
Wenn die Zeitgutschrift nicht nur in einem Tandem ausgetauscht wird, sondern auch in Formen der Pflege der Gemeinschaft erbracht wird, dann entsteht eine Caring Community. Der Verein Netzwerk Caring Communities Schweiz beschreibt Caring Communities so:
«Unter einer Caring Community verstehen wir eine Gemeinschaft in einem Quartier, einer Gemeinde oder einer Region, in der Menschen füreinander sorgen und sich gegenseitig unterstützen. Jede und jeder nimmt und gibt etwas, gemeinsam übernimmt man Verantwortung für soziale Aufgaben.“
Caring Communities sind zu einem großen Teil getragen durch Freiwilligenarbeit. Mit dem Zusammenschluss zu einem nationalen Netzwerk, entsprechende gibt es auch in Deutschland und Österreich, wird die gesellschaftliche Bedeutung der Freiwilligenarbeit hervorgehoben. Sie machen auch die Werte deutlich sichtbar, die die Freiwilligenarbeit prägen: gegenseitige Fürsorge, Engagement für die Gesellschaft und Begegnung und Zusammenarbeit auf Augenhöhe, auch zwischen den Geschlechtern. Sie können – so hoffen wir – damit wegweisend sein für eine zukunftsfähige Grundhaltung in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft.
Beitrag für die Fachzeitschrift für Palliative Geriatrie
10.11.2024 / Ruedi Winkler