Caring Communities als Mit-Wegbereiter für eine sich erneuernde Gesellschaft

Buchbeitrag zu «Care schafft Community – Community schafft Care» Hrsg. Robert Sempach und Peter Zängl

Caring Communities als Mit-Wegbereiter für eine sich erneuernde Gesellschaft

1. Einleitung
Wir nehmen Veränderungen oft lange nicht wahr, wenn sie schon begonnen haben. Das hängt auch damit zusammen, dass das Gemeinsame einer Entwicklung oft nicht unmittelbar ins Auge springt. Das dürfte auch für die Organisationen gelten, die Mitglied des Netzwerkes Caring Communities sind. Der Bereich ihrer Tätigkeit und ihre konkrete Arbeit sind ganz unterschiedlich. Dadurch, dass sie Mitglied des Netzwerks Caring Communities sind, bekennen sie sich zu den Werten für eine Caring Community. Auf der Website des Netzwerks sind diese so beschrieben: «Eine Caring Community ist eine Gemeinschaft, in der Menschen füreinander sorgen und sich gegenseitig unterstützen. Gemeinsam wird Verantwortung für soziale Aufgaben wahrgenommen, wobei Vielfalt, Offenheit und Partizipation beachtet und gestaltet werden.»
Diese Werte sind die gemeinsame Grundlage der Caring Communities und erklären wohl auch die Attraktivität des doch eher allgemeinen Begriffs.

2. Caring Communities als gesellschaftliche Kraft
Cornelia von Coenen-Marx, Theologin und Buchautorin , definiert die Ziele der Caring Communities als «Übernehmen von wechselseitiger Unterstützung, von Bereitschaft und Übernahme von Verantwortung für sich selbst, für andere und für die gesellschaftliche Entwicklung.» Das Wissenszentrum des Zentrums Schönberg in Bern schreibt in seiner Charta für die Caring Communities, bzw. sorgende Gemeinschaften, dass diese in «Übereinstimmung mit den übergreifenden Zielen und Werten der UN-Menschenrechtscharta und der Bundesverfassung sowie der Ottawa-Charta der WHO» stehen. Als Ziele halten sie fest: «Wir streben eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung auf sozialer, wirtschaftlicher, politischer, kultureller, spiritueller und ökologischer Ebene als das Fundament einer Caring Community/Sorgenden Gemeinschaft an.»
Beide Beschreibungen sehen für die Caring Communities eine Bedeutung auch für die gesellschaftliche Entwicklung, die über das Engagement in einem bestimmten Bereich hinausgeht. Beide betrachten die Caring Communities als eine gesellschaftliche Kraft.
Die Arbeit der bestehenden Caring Communities ist meistens sehr konkret. Sie füllen Lücken, ergänzen bestehende Angebote, setzen sich für Jugendliche, Familien und Ältere und die Quartierbelegung ein, organisieren Nachbarschaftshilfe, beteiligen sich an ökologischen Projekten usw. Offensichtlich bestehen Bedürfnisse und Lücken. Und offensichtlich gibt es zunehmend Menschen, die der Ansicht sind, dass weder der Staat noch die Wirtschaft gewillt oder in der Lage sind, diese Bedürfnisse zu befriedigen bzw. die Lücken zu schliessen. Also werden sie selber aktiv, d.h. sie greifen zur Selbsthilfe. Die Zivilgesellschaft übernimmt und organisiert sich. Dabei lässt sie sich offensichtlich zunehmend auch von übergeordneten Ueberlegungen leiten. Der Zusammenschluss in einem wertebasierten Netzwerk ist ein starker Hinweis dafür. Kann daraus geschlossen werden, dass nicht nur in konkreten Bereichen unserer Gesellschaft Defizite bestehen, sondern auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene? Und könnte das heissen, dass in der Gesellschaft auf der handelnden Ebene neue Formen des Zusammenarbeitens und des Zusammenlebens entstehen, die zukunftsweisend sind?

3. Heutiges System mit grundlegenden Defekten
Die Soziologin Riane Eisler, Soziologin, Systemwissenschaftlerin und Autorin vertritt die Ansicht, dass unser System grundlegende Defekte hat und sie benennt diese Mängel auch konkret.
Der Oekonom Marc Chesney, Professor für Finanzen an der Universität Zürich, weist in seinem Buch «Die permanente Krise. Der Aufstieg der Finanzoligarchie und das Versagen der Demokratie» eindringlich darauf hin, was diese Defekte anrichten können.
3.1 Alles dreht sich ums Geld
Chesney hält fest, dass unsere Gesellschaft zunehmend von den Interessen der Finanzsphäre gesteuert wird. In diesem «Nervenzentrum der Wirtschaft, überwiegen Käuflichkeit, das Fehlen anderer, als finanzieller Werte und ein moralisches Vakuum». Und die Gesellschaft sei dem ausgeliefert, weil die Demokratie nicht in der Lage sei, diese Entwicklung zu verhindern. Ein Befund, wie er wohl kaum eindringlicher zeigen könnte, wie stark elementare Werte der Gesellschaft bedroht sind.
3.2 Männer dominieren
Die bekannte amerikanische Soziologin Riane Eisler analysiert in ihrem Buch «Die verkannten Grundlagen der Oekonomie» den grundlegenden Systemfehler. Das Problem sieht Eisler in unserem «dominanzgeprägten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem». Solche Systeme seien geprägt von vier Elementen: Autoritäre auf Kontrolle gestützte Hierarchien, hohes Mass an Missbrauch und Gewalt, Unterordnung der Frauen unter die Männer und der Ueberzeugung, dass diese Dominanz «als unausweichlich, ja sogar als moralisch geboten» gerechtfertigt sei.
3.3 Die Fürsorge fehlt
Aus der Sicht Eislers haben die «zunehmenden Probleme von Individuen, Gesellschaft und der natürlichen Umwelt, also unserer Mitwelt, eine gemeinsame Ursache: Einen Mangel an Fürsorge bzw. Care.» Fürsorge bzw. Care versteht sie in einem umfassenden Sinne, von «einem Gefühl oder einer Emotion bis hin zu einer Tätigkeit oder einer ganzen Reihe von Tätigkeiten». Und weiter führt sie aus, dass die herkömmlichen Wirtschaftsmodelle in «befremdlicher Art und Weise einige der grundlegenden Voraussetzungen der menschlichen Existenz – allen voran, «die essenzielle Bedeutung der Fürsorge und der Care-Arbeit für jegliche oekonomische Aktivität» ausblenden würden. Eisler versteht unter Fürsorge den sorgfältigen Umgang sowohl zwischen den Menschen wie auch mit der Umwelt, mit Andersartigem und mit unterschiedlichen Meinungen.
Nach Ansicht Eislers stehen wir «an einem Kipppunkt, einem Wendepunkt der Weltgeschichte, die nicht weniger verlangt, als einen grundlegenden Wandel» .

4. Partnerschaftliches System für die Zukunft
Eisler stellt diesem defekten System ein partnerschaftliches gegenüber. Sie beschreibt dieses so: «Eine demokratische und egalitäre Familien- und Gesellschaftsstruktur; ein niedriges Mass an Missbrauch und Gewalt; ein gleichberechtigtes und partnerschaftliches Verhältnis zwischen Männern und Frauen sowie die Ueberzeugungen und Geschichten, die Beziehungen fördern, die auf gegenseitigem Respekt, gegenseitiger Verantwortlichkeit und beidseitigem Gewinn basieren.»
Eisler geht, wie gesagt, davon aus, dass wir vor einem gesellschaftlichen Wendepunkt stehen. Von einer Wende erwartet sie, dass die oben skizzierte Richtung führt. Dieses partnerschafltiche System weist viele Werte und Eigenschaften auf, die in den Caring Communities angestrebt und praktiziert werden. Auch hier stehen partnerschaftliche Zusammenarbeit, Gemeinschaft, Fürsorge und gegenseitige Unterstützung im Zentrum.

5. Welches gesellschaftliche Potenzial hat die Caring Community-Bewegung?
Sind die Caring Communities also Wegbereiter für eine zukünftige Gesellschaft? Ist das nicht etwas zu weit hergeholt?
5.1 Gegenseitige Beeinflussung und Verstärkung
Das Zukunftsinstitut Frankfurt am Main schreibt im Zusammenhang mit Megatrends, dass die Wirkung einer Bewegung, die auf wesentlich anderen Werten und Grundsätzen beruhe, nicht zu unterschätzen sei. Sie beschreiben das so: «Megatrends wirken nicht eindimensional, sondern vielfältig und komplex. Sie entfalten ihre Dynamik querschnittartig, über alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche hinweg. Megatrends wirken zudem nicht isoliert, sondern beeinflussen sich gegenseitig und verstärken einander wechselseitig in ihrer Wirkung» . Ob die Werte und Grundsätze der Caring Communities Teil eines Megatrends sind, bleibe dahingestellt. Dass sie jedoch auf «wesentlich anderen Grundsätzen und Werten beruhen» ist unbestritten.
Caring Communities können so sehr wohl andere Bereiche der Gesellschaft beeinflussen und eine wechselseitige Wirkung erzielen. Die Arbeit der meisten Caring Communities ist meist in ihrem Wirkungsfeld für viele einsehbar. Eine günstige Voraussetzung, um eine bestimmte Breitenwirkung zu erzielen. Und sie haben verschiedene Eigenschaften, die das Potenzial haben, von den Menschen aus anderen Bereichen wahr- und aufgenommen zu werden. Das grosse Interesse und die Sympathie, die den Caring Communities generell entgegenkommen, weisen darauf hin, dass die von ihnen verfolgten Ziele und Werte auf Zuspruch und Aufmerksamkeit stossen und damit sehr wohl wechselseitig beeinflussend und verstärkend wirken können. Als Beispiele seien die folgenden erwähnt.

5.2 Partnerschaft statt Hierarchie
Hierarchien sind auch in der Wirtschaft nicht mehr unbestritten und z.T. schlicht nicht mehr tauglich, aber trotzdem halten sie sich hartnäckig. Caring Communities sind in der Regel nicht hierarchisch organisiert. Sie funktionieren gemeinschaftlich (manchmal auch chaotisch) und der Gemeinschaftscharakter und das Gefühl, miteinander etwas aufzubauen bzw. zu betreiben, ist stark. Ein wichtiger Grund ist auch, dass viele freiwillig dabei sind und damit auch die Wahl haben, zu gehen, wenn es nicht mehr befriedigend ist. Diese Uebungsanlage bedeutet, dass eine andere Art von Zusammenarbeit geübt wird, dass die Gemeinschaft stärker im Mittelpunkt steht, und hier auf jeden Fall viel Erfahrung gesammelt werden kann, wie auf diese Art gut und meist auch effektiv zusammengearbeitet werden kann. Es findet ein Lernprozess statt und die zunehmende Erkenntnis, dass das funktioniert. Und zunehmend besser funktioniert, als mit traditioneller Hierarchie. Das ist eine grosse Chance. Im Grunde genommen sind Care Communities Pilotprojekte für partnerschaftlich organisiertes Zusammenarbeiten.

5,2 Gleichberechtigung von Frau und Mann
Ueber 60 Prozent der Carearbeit wird von Frauen ausgeführt. D.h.auch, dass die Gestaltung der Carearbeit stärker von Frauen beeinflusst ist als die männerdominierte Lohnarbeit. In der Carearbeit ist zudem das Element, das Eisler in der heutigen Arbeitswelt vermisst, die Fürsorge, ein zentrales Element.
Gleichberechtigung hat in einer männlich geprägten Strukur, wie sie in der heutigen Wirschaft dominiert, keine Chance. Ohne eine Aenderung der Struktur, der Mentalität und der Mechanismen bleibt wirkliche Gleichberechtigung ein Wunschtraum. Die Caring Communities leisten ihre anspruchsvolle Arbeit im Rahmen eines meist gleichberechtigten Zusammenwirkens von Frauen und Männern.

5.3 Gegenseitige Fürsorge und Unterstützung
Viele Caring Communities haben bereits in ihrem Zweck und Ziel Tätigkeiten, die Fürsorge, sich gegenseitig unterstützen, das Tragen von Verantwortung füreinander und das gemeinschaftliche Zusammenwirkens voraussetzen. Diese Tätigkeiten sind in vielerlei Hinsicht anspruchsvoll. Sie führen den Beteiligten auch immer wieder vor Augen, wie zielführend und wirksam ein fürsorgliches Zusammenwirken, bei dem die Beteiligten einander auf Augenhöhe begegnen, sein kann. Diese Erfahrung dürfte auch die Ueberzeugung ins Wanken bringen, damit etwas funktioniere seien Hierarchien nötig.

6. Arbeitswelt im Umbruch
Heute ist die Arbeitswelt noch getrennt in Lohnarbeit und Carearbeit. In dieser Arbeitswelt sind grundlegende Veränderungen im Gange. Bei der Lohnarbeit vorwiegend auch wegen der Digitalisierung. Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass bis 2040 höchstens noch für 60 Prozent der beschäftigungswilligen und -fähigen Menschen Lohnarbeit vorhanden ist. Gerade umgekehrt ist es bei der Carearbeit. Hier nimmt der Bedarf zu, u.a. auch infolge der demografischen Veränderungen.
Die Trennung in Lohnarbeit und Carearbeit ist in einer Gesellschaft, die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, die gemeinsame Sorge um das Wohlergehen aller und der Pflege solider Gemeinschaften zum Ziel hat, absolut hinderlich. Sie muss überwunden werden. Als Erstes muss erreicht werden, dass die Carearbeit Leistenden so entschädigt werden, dass sie davon leben können. Die Diskussion des Grundeinkommens weist einen möglichen Weg. Eine Neugestaltung der Arbeitswelt geht aber weit darüber hinaus. Die Arbeit in den Care Communities gibt auch hier Impulse, bietet Uebungsfelder und Ermutigung neue Formen zu wagen.

7. Schlussbemerkungen
Wir werden uns bei den Herausforderungen, die vor uns liegen mit Vorteil an den Ausspruch von Albert Einstein halten «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.» Das konkrete Wirken der Menschen, die sich in Caring Communities engagieren und die Werte, von denen sie sich leiten lassen ,können Orientierungspunkte sein zu einer neuen Denk- und Handlungsweise. Orientierungspunkte, die zusammen mit vielen anderen jene Kräfte stärken, die eine Erneuerung der Gesellschaft möglich machen.

2.6.2021/Ruedi Winkler

Keinen Sand in die Augen streuen

Der Uno-Klimarat hat diese Woche den neusten Bericht zum Klimawandel vorgestellt. Seine Einschätzung der Lage und die Dringlichkeit des Handelns ist unverändert. Gemäss Zeitungsmeldungen soll der Bericht aber auch betonen, dass die Mittel zur Linderung und Anpassung bereitstünden, aber entschlossener angegangen werden müssten. Eine Autorin des Berichts soll gemäss NZZ gesagt haben „Es ist nicht so, dass uns eine Technologie oder Kenntnisse fehlen würden“. Das dürfte wohl so sein. Aber es ist nicht der springende Punkt. „Der Pro-Kopf-Konsum in westlichen Ländern ist zu hoch“, sagt Arneth, eine der Verfasserinnen. Das ist das Entscheidende. Aber wir weichen ihm immer wieder aus. Obwohl wir wissen, dass ein bisschen weniger Fleisch essen, etwas weniger Fliegen bei weitem nicht reicht. Da reden wir lieber davon, was technisch möglich wäre. Die ETH hat letztes Jahr berechnet, dass, um alle fossilen Energiesysteme bis 2050 vollständig zu ersetzen, sich die jährlichen Investitionen in CO2-freie Technologien in wohlhabenden Ländern mehr als verdoppeln und in Entwicklungsländern mindestens vervierfachen müssten. Die wohlhabenden Länder könnten, wenn sie wollten, aber wer zahlt das in den Entwicklungsländern? Und das wäre dann erst noch die einfachere Seite. Den Konsum so viel zu senken, dass es wirklich Wirkung hätte, dazu sind in den wohlhabenden Ländern nur wenige bereit, Würde eine Partei Forderungen postulieren, die den Klimawandel wirklich stoppen würde, käme sie vermutlich in keinem demokratischen Land über zwei Prozent Wähleranteil. Wir sollten tun, was wir können, Wenn möglich noch etwas mehr. Aber wie im Bericht des Klimarates auch ausgeführt wird, wir müssen uns sehr ernsthaft überlegen, wie wir mit den Folgen des Klimawandels umgehen. Z.B. damit, was geschieht, wenn der Wassermangel immer grössere Teile der Welt nicht mehr bewohnbar macht. Und die Menschen, die dort leben zu wandern beginnen. Dorthin, wo es noch Wasser hat.
24.3.23

Vernunft ist gefragt

Hervorgehoben

Sogenannt hochentwickelte Gesellschaften und moderne Wirtschaft und ärmere Gesellschaften mit einfacherer Wirtschaft haben eines gemeinsam: Wirtschaft und Gesellschaft gehören zusammen und sind voneinander abhängig. Entweder wir akzeptieren das, beenden die so stark aufgeladenen Diskussionen um die von der Politik unabhängige Wirtschaft oder es gibt in unschöner Regelmässigkeit solche Uebungen, wie sie jetzt gerade im Fall CS oder in den USA mit zwei Banken durchgespielt werden. Nach dem immer gleichen Muster, eine Gruppe von Leuten benutzt eine Firma um sich zu bereichern, und wenns dann schief geht, muss der Staat einspringen um den angerichteten Schaden zu begrenzen.
Dieses Muster können wir durchbrechen, wenn wir anerkennen, dass die Wirtschaft im Dienste der Gesellschaft stehen muss, und deshalb nicht als Mittel zur missbräuchlichen Bereicherung dienen darf. Die Unternehmen müssen selbstverständlich ihren Frei- und Entwicklungsraum haben, aber die Regeln und die Grenzen müssen klar gesetzt werden, und dies ist die Aufgabe der Politik. Davor darf sie sich nicht drücken. Und die ideologischen Dogmen, mit denen sich die Wirtschaft davor drücken will, gehören definitiv in die Mottenkiste. Jetzt ist Vernunft gefragt.

20.3.23