In der NZZ vom 4.11.20 erschien unter dem Titel: Nur ja nicht ins Altersheim – aber wer springt in die Bresche? ein Artikel, der mich zu den folgenden Ueberlegungen inspirierte:
Mir scheinen bei dieser Diskussion zwei Punkte wichtig. Erstens sollten wir bei der Frage «Altersheim oder nicht» weder «verteufeln» noch schönreden. Der Eintritt in ein Altersheim ist eine gravierende Zäsur für fast alle Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger eigenständig lebten. Das liegt auf keinen Fall daran, dass sich die Angestellten in den meisten Altersheimen nicht riesig Mühe geben würden. Sondern das liegt in der Natur der Sache. Selbstständigkeit und selbst bestimmen können, was man tut – oder mindestens dies so zu empfinden – ist eines der wertvollen Güter der Menschen. Mit der Verschiebung von der eigenen Wohnung in eine Institution, die aufgrund ihrer Grösse ganz einfach Regeln braucht, die den Freiraum einschränken, geht ein wesentlicher Teil der Eigenständigkeit verloren. Das festzuhalten ist kein Angriff auf die Altersheime, das ist eine Tatsache. Schönreden ändert daran nichts.
Der zweite Punkt betrifft die Betreuung. Betreuung muss eingebettet sein in ein Umfeld und in eine Gesellschaft, in der das sich um einander kümmern selbstverständlich ist. Gerald Hüther sagt das so: „(…) worauf es im Leben, im Zusammenleben und bei der Gestaltung der gemeinsamen Lebenswelt wirklich ankommt: auf Vertrauen, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung, auf das Gefühl und das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein“. Hüther ist ein bekannter Hirnforscher.
Ein Verhalten im Sinne von Hüther heisst konkret in unserer Lebenswelt unsere Beziehungen so zu pflegen und zu gestalten, dass die Betreuung in unserem Alltag Teil unseres Lebens ist. Ob wir das als Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn oder was auch immer tun, ob wir das organisiert als Freiwillige, oder unorganisiert als Zeitgenossinnen und -genossen in unserem Lebensumfeld tun, ist sekundär. Entscheidend ist unsere Grundhaltung. Diese Grundhaltung wird von vielen einzelnen Menschen und von Organisationen wie z.B. der Nachbarschaftshilfe usw., gelebt. Die Idee der Caring Communities vertieft das. Das ist das Fundament, auf dem die Betreuung in der Zukunft den Stellenwert bekommen kann, der ihr zukommt. Der Staat kann das unterstützen, aber die Grundlage müssen die Menschen liefern, sonst wird mit viel Geld und «schlagkräftigen Konzepten» Leerlauf produziert.
Ruedi Winkler